Am 28.04.2015 führten Pia Wieser und Christian Tschernetzki ein Interview mit Werner Appe (85 J.) in der Geschichtswerkstatt Wolfsburg.

Pia Wieser: Haben sie viel mit dem Krieg in der Schule zu tun gehabt und wurden sie darauf vorbereitet?
Appe: Ja, vorbereitet kann man schlecht sagen, denn der Krieg dauerte ja schon etliche Jahre. Als ich in eurem Alter war, war ich auch in der 10. Klasse der Realschule Fallersleben. Wir kriegten frühzeitig die Bombenangriffe auf das Volkswagenwerk mit. Ich war persönlich involviert, denn mit der Fallersleber Feuerwehr, die ja aus ein paar älteren Männern und ein paar Zehntklässlern bestand, die nicht Soldaten geworden waren, wurden wir auch bei Bombenangriffen direkt angefordert. In dem brennenden Werk sollten wir löschen, was noch zu löschen war. Das VW-Werk war ja zu mehr als 60% zerstört worden.

Foto von Werner Appe

Bei "Fliegeralarm" musste ich jeden Tag, auch in der Nacht, mit dem Fahrrad und "Helm auf" als Melder zum Rathaus und mich zusammen mit zwei Klassenkameraden beim Bürgermeister melden. Es gab keinen direkten Angriff auf Fallersleben. Auf Fallersleben sind nur einige Bomben gefallen, z. b. fiel eine Stabbrandbombe in das Elternhaus meines Vaters. Sie explodierte aber nicht, mein 85-jähriger Großvater schnappte das Ding und warf es auf einen Misthaufen.

"Vorbereitung auf diese Geschichte" kann man schlecht sagen, denn von Tag zu Tag änderte sich das Kriegsgeschehen. Die Front kam immer näher und die Lehrer hatten nur zu tun, uns auf die Abschlussprüfung vorzubereiten, damit wir unseren Realschulabschluss noch vor Kriegsende schaffen konnten. Im März waren die Abschlussprüfungen, von den mündlichen Prüfungen war ich Gott sei Dank befreit. Unser Zeugnis haben wir noch bekommen, aber die Lehrer hatten mit uns und dem Kriegsgeschehen selber weniger zu tun. Das war mehr eine Sache der Partei, des Volkssturms, der Hitler-Jugend. Da haben wir alles mitgekriegt und bis zum Schluss fast noch an den Endsieg geglaubt wie die meisten Deutschen.

Christian Tschernetzki: Hatten sie ein großes Haus oder eine Wohnung? Wie waren die Wohnverhältnisse?
Appe: Es war ein Einfamilienhaus, ein Siedlungshaus. Man sieht die noch in der Fallersleber Bölschestraße, da gibt es die noch. Es waren zwei Kinderzimmer vorhanden, aber keine Fernheizung. So was Schönes gab es nicht, wir mussten sehen, dass wir Kohlen kriegten. Es waren harte Jahre zu der Zeit.

Ich könnte jetzt erzählen, wie es mir in den letzten Kriegsjahren ergangen ist. Ich war „Fähnleinführer“ beim Jungvolk, das war so das Höchste, was man in dem Alter werden konnte und ich musste mich um viele Dinge kümmern. Da gab es zum Beispiel in den Herbstferien immer einen Ernteeinsatz. Es gab keine Fernreisen, wir waren immer im Ernteeinsatz. Morgens kam ein Trecker vom Rittergut Martinsbüttel und alle „Pimpfe“ mussten pünktlich da sein. Wir wurden auf Anhänger gesetzt und ab nach Martinsbüttel, das liegt hinter Calberlah. Das ist so ein kleines Dorf und dann waren wir den ganzen Tag auf dem Kartoffelacker und mussten Kartoffeln aufsammeln. Zusammen mit Zwangsarbeitern, die aus Russland, Polen oder der Ukraine waren. Genau haben wir das nicht mitgekriegt, weil wir von denen so ein bisschen abgeschottet wurden.

Mit dem Ernteeinsatz begann es schon 1942, da wurden wir aber „einzeln“ zu den Bauern auf das Land geschickt. Ich war 1942 in Allerbüttel bei Fallersleben. 1943 in Croya beim Bauern, da wurden wir wurden wir in einer Knechtskammer untergebracht. Im Frühjahr mussten wir in Fallersleben auf den großen langen Zuckerrübenfeldern die Rüben “verziehen“. Damit sich jemand was darunter vorstellen kann: Rüben wurden ja erstmal in so langen Reihen gesät. Dann müssen sie aber einzeln sortiert werden, damit nicht zu viele kleine Rüben nebeneinander stehen, sondern wirklich große Rüben rauskommen. Das war also unser „Nachmittagsvergnügen“ nach der Schule. Im ganzen Jahr kamen natürlich noch die vielen Dienste beim Jungvolk dazu, Mittwoch und Sonnabend Nachmittag. Was haben wir da gemacht? Geländespiele waren am beliebtesten. Ich kann mich entsinnen, dass wir mal ein großes Geländespiels unseres „Jungstammes“ gegen die des „Stadt des KdF-Wagens“ hier im Laagholz veranstaltet haben...

Ich war als 15-jähriger auch schon schwer bewaffnet. Ich hatte ein Kleinkalibergewehr und eine Pistole „Walther 635“. Damit fuhr ich dann über Land zu den anderen Jungvolk-Standorten und überbrachte Dienstbefehle oder andere Nachrichten. Bewaffnet war ich deshalb, weil zu der Zeit im Winter 1944/45 schon entlaufene Kriegsgefangene das Land unsicher gemacht haben und damit ich nicht wehrlos war – falls die auch hier mal unterwegs waren und mich erwischt hätten. Ich habe aber keine Kriegsgefangenen gesehen. Diese Waffen musste ich dann leider beim Einmarsch der Amerikaner abgeben. Manche hatten ihre Waffen auf dem Boden versteckt oder vergraben. Aber das habe ich mich nicht getraut, weil ja noch mehrere in Fallersleben wussten, der hat was.

Pia Wieser: Hatten sie auch Kontakt zu Kriegsgefangenen oder Flüchtlingen?
Appe: Ja, zu beiden. Kriegsgefangene Serben waren bei der Stadt Fallersleben als Arbeiter beschäftigt, was heute so die Müllmänner sind. Männer waren ja nicht mehr da, die waren an der Front einschließlich des Jahrgangs 1928. Ich war Jahrgang 1929 und kam nicht mehr an die Reihe. Mit diesen Männern aus Serbien hatten wir eigentlich ein lockeres Verhältnis. Einige Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner begegnete ich einem Serben, der sagte: „Du auch kleiner Hitler“. Wir hatten denen nichts getan und die uns nichts, das Verhältnis war eigentlich entspannt.

Flüchtlinge kamen zuerst als Ausgebombte aus Nord- und Westdeutschland. Die waren noch verhältnismäßig leicht unterzubringen, da gab es noch etwas Wohnraum. Vom Winter 1944 auf 1945 aber verdoppelte sich die Einwohnerzahl von Fallersleben von 2900 auf 4900 Menschen - ohne dass irgendein Haus gebaut werden konnte. Wir holten als Pimpfe die mit der Bahn ankommenden Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen am Bahnhof ab. Wir führten sie mit Handwagen - für ihr Gepäck - in die Wohnungen, die ihnen zugewiesen wurden. Das hatte dann bei mir zu Hause die Folge, dass ich mit meinem Bruder im Esszimmer schlafen musste. Unsere Kinderzimmer waren von zwei Flüchtlingsfamilien besetzt. Und für alle gab es nur eine Toilette ohne Wasserspülung.

Gruppenbild mit Werner Appe

Christian Tschernetzki: Hatten Sie zu der Zeit genug zu essen für alle?
Appe: Es ging. Genügende, heutige Portionen gab es nicht. Es gab Lebensmittelmarken und das was zugeteilt wurde. Wir konnten allerdings ein Schwein schlachten, eines im Jahr, so dass wir immer etwas mehr hatten als nur auf Lebensmittelmarken angewiesen zu sein. Es gab in Fallersleben durch das Volkswagenwerk auch eine sogenannte „Volksküche“ in einer Baracke. Dadurch war es möglich, dass auch Flüchtlinge gleich eine warme Mahlzeit bekamen und dann auch am Tage dahin gehen konnten. Zum Essen gab es, was es an Essen noch gab. Ein Stück Fleisch an jedem Tag, das gab es auf jedem Fall nicht.

Christian Tschernetzki: Wie haben Sie sich gefühlt, als die US-Panzer kamen?
Appe: Am 10. April 1945 waren die Amerikaner bis zur Kanalbrücke in Wedelheine gekommen. Es hieß, eine kleine Truppe Amerikaner hätte sich dort eingeigelt. Da haben wir gedacht: eine kleine Truppe? Wer weiß? Wir wurden auf jeden Fall alarmiert. Wir wurden schon als 15-jährige oder auch Jüngere zum „Volkssturm“ ernannt, die verteidigen sollten. Es gab einige Panzerfäuste für die Männer in Fallersleben, die noch da waren. Zwischen Fallersleben und Sülfeld sollten wir eine Panzersperre bauen und einen weiteren Vormarsch der Amerikaner aufhalten.

Wir waren nachts versammelt und konnten nicht nach Hause, denn es konnte ja auch nachts etwas passieren. Am nächsten Morgen (11. April) hörten wir in der heutigen Verwaltungsstelle in Fallersleben (früher Amtsgericht), dass der Vormarsch schon begann und Fallersleben sei zu verteidigen. Das hat uns ein Angestellter der Stadt und SA-Volkssturmführer befohlen. Als die Amerikaner da waren, hat er sich dann aber auf dem Boden des Amtsgerichts verkrochen und hat nichts verteidigt. Denn es war wirklich gar nichts zu machen. Aus dieser kleinen amerikanischen Truppenspitze, von der man gesprochen hatte, war eine ganze Division geworden, die um 7 Uhr morgens von Sülfeld einfuhr. Dieser Strom von Panzern hörte den ganzen Tag nicht auf. Um 7 Uhr fuhr ein Jeep am Amtsgericht vor. Ich saß allein am Fenster und konnte auf den Vorplatz gucken. Da man mich als Telefonist eingeteilt hatte, musste ich im Volkswagenwerk anrufen und melden, dass die Amerikaner jetzt da sind. Nach Wolfsburg kamen sie allerdings noch nicht, erst 2 Tage später. Dann hat man mich wohl von draußen gesehen, es fiel ein Schuss durch das Fenster, hat mich aber nicht getroffen. Ich bin dann auch runter in den Luftschutzkeller zu den anderen Leuten, die sich da versammelt hatten. Es dauerte nicht lange, bis amerikanische Soldaten mit vorgehaltenem Gewehr in den Keller kamen und sagten: „Alle raus“. Wir hatten vom Volkssturm Arbeitsdienstjacken bekommen und waren also nicht ganz in zivil, aber auch nicht in HJ-Uniform, sondern in diesen Arbeitsdienstjacken in olivgrün. Deshalb hielt man uns für Soldaten. Wir waren vier Jungen, die sich auf dem Vorplatz hinsetzen mussten. Da standen auch Kisten in der Größe eines Tisches mit Sand gefüllt. Der Sand war da, um bei Bombenangriffen löschen zu können. Mein Freund aus Sülfeld saß mit mir auf einer Kiste und zwischen uns knallte plötzlich ein Granaten-Splitter in den Sand - zwischen mir und meinen Freund. Das sah ein älterer Volkssturmmann, der an der Wand stand, der wurde ohnmächtig und viel um. Wir beiden Jungs guckten uns an und dachten: „Gut, dass es uns nicht getroffen hat“. Man war da irgendwie abgehärtet. Dann kamen die Amerikaner wieder in Bewegung. Wir mussten uns vorn auf die Seiten von Schützenpanzern draufsetzen. Das waren die vordersten Fahrzeuge. Sie fuhren durch Fallersleben über die Mittelandkanalbrücke in Richtung Tappenbeck. Wir waren sozusagen „Kugelfang“ auf diesen Fahrzeugen und konnten den ganzen Funksprechverkehr mithören. Wir bekamen auch einen Eindruck davon, dass die Amerikaner ein etwas anderes Englisch sprachen als das, was wir in der Schule gelernt hatten. Es war schwer zu verstehen, zumal alles recht schnell war und auch „wehrmachtsbezogen“ war. Man konnte nicht viel verstehen. Dann ging die Fahrt weiter. In das erste Haus, das auf der Strecke ins Visier der Amerikaner kam, wurde ein Schuss abgefeuert. Damit die gleich wussten: „Hier wird nicht gespaßt“. Das war in der damaligen Försterei Stellfelde zwischen Fallersleben und Tappenbeck. Da war eine Frau, die neugierig aus dem Fenster guckte, sie wurde getroffen und war tot. Das haben wir im Vorbeifahren mitgekriegt.

Die Fahrt ging weiter durch Jembke. Zwischen Tiddische und Bergfeld legte die Kolonne der Amerikaner eine Pause ein. Ich dachte: Wo soll das noch hingehen? Da kam ein Sergeant vorbei Ich sprach ihn in meinem guten Englisch an, das ich 6 Jahre lang gelernt hatte: „Sir, we are no soldiers. We are schoolboys, we are pressed in this uniforms“. „Oh“, sagte er und holte einen Leutnant, der deutsch sprach. Der hörte sich die Geschichte nochmal auf Deutsch an und sagte: „ Dann schmeißt diese Jacken weg und seht zu wie ihr wieder nach Hause kommt"...

Dann kam der 20. April 1945. Aus der Heide hatte sich eine kleine deutsche Panzertruppe auf den Weg in den Harz gemacht und wollte sich dort mit einer Panzertruppe vereinigen. Diese kleine Panzertruppe raste durch Fallersleben, hatte auch Verluste, denn die Amerikaner wehrten sich natürlich. Wir haben dann deutsche abgeschossene Panzer in der Stadt liegen gesehen. Es gab eine wüste Schießerei zwischen Deutschen und Amerikanern auf der Ehmerstraße, wo mein Elternhaus steht. Eine verirrte Kugel schlug durch die Fensterbank in unser Haus rein - und wohin? Durch meinen linken Fuß. Ich lag unterhalb des Fensters, aber dieser Blindgänger hat mich erwischt und für 2 bis 3 Monate außer Gefecht gesetzt. Wo nun Hilfe herkriegen? Mein Vater - schwerkriegsbeschädigt aus dem 1. Weltkrieg – nahm allen Mut zusammen und lief trotz des Ausgangsverbots in die Stadt zu einem Arzt. Ich wurde notdürftig verbunden und habe dann die nächsten Wochen in meinem Bett verbracht. Das war mein „Andenken“ vom 2. Weltkrieg.